Die deutsche und die französische Mediävistik pfleg(t)en unterschiedliche Grundannahmen über das Verhältnis von Raum und politischer Macht im frühen und hohen Mittelalter: Die französische Forschung geht davon aus, dass die Macht von Königen, Bischöfen und weltlichen Großen wie Herzögen und Grafen auch schon vor dem 12. Jahrhundert territorial radiziert gewesen sei, sich also auf bestimmte Räume mit mehr oder minder klar umrissenen Grenzen bezogen habe. Dagegen nimmt die deutsche Forschung überwiegend an, dass erst im 12. Jahrhundert ein Prozess der Territorialisierung eingesetzt habe, aus dem schließlich im Spätmittelalter ein neues Verhältnis von Herrschaft und Raum erwachsen sei.
Diese gegensätzlichen Annahmen haben weitreichende Konsequenzen für mindestens zwei aktuelle Forschungsfelder. Sie beeinflussen tiefgreifend die Sicht der deutschen und französischen Forschung auf die staatliche Verfasstheit des Karolingerreiches und deren weitere Entwicklung in den Nachfolgereichen östlich wie westlich des Rheins bis zum 12. Jahrhundert, und sie wirken sich auf die Modelle aus, mit denen Mediävisten aus beiden Ländern zur Zeit die politische Praxis im Mittelalter beschreiben.
Angesichts dessen verfolgt dieses deutsch-französische Projekt das Ziel, genauer zu ermessen, inwieweit die unterschiedlichen Geschichtsentwürfe lediglich auf divergierende nationale Forschungstraditionen zurückzuführen sind – und inwieweit sie in historischen Unterschieden in der politischen Praxis und der Vorstellungswelt in den verschiedenen Regionen gründen.
Um diese Frage zu beantworten, sollen zwei methodische Herangehensweisen miteinander kombiniert werden: Zum einen gilt es, mit einem historiographiegeschichtlichen Zugriff die unterschiedliche Entwicklung der einschlägigen deutschen und französischen Arbeiten seit dem späten 19. Jahrhundert zu analysieren. Zum anderen soll in transnational vergleichenden Regionalstudien (Schwaben-Provence, Sachsen-Septimanien) der Frage nachgegangen werden, wie die Zeitgenossen politisch bedeutsame Räume in ihrer Wahrnehmung und Deutung sowie durch ihr Handeln in der Praxis konstituierten.
Die hier veröffentlichten Beiträge gehen auf verschiedene Workshops zurück, die im Rahmen des Territoriumsprojekts in Tübingen und Paris/Marne-la-Vallée veranstaltet wurden (vgl. Projektseite).
Abschließende Ergebnisse werden in zwei Bänden bei Brepols und dem Thorbecke Verlag publiziert. Derzeit im Druck: G. Bührer-Thierry, S. Patzold & J. Schneider (Hg.), Genèse des espaces politiques (IXe-XIIe siècle). Autour de la question spatiale dans les royaumes francs et post-carolingiens (Haut Moyen Âge), Turnhout, 2017