Inhaltszusammenfassung:
Eine steigende Anzahl von Personen wird von einem ambulanten Pflegedienst in der eigenen Häuslichkeit
(mit-)versorgt. Der aktuellen bundesdeutschen Pflegestatistik zufolge belief sich diese Zahl im Jahr 2019 auf
980.000 Menschen (Destatis 2020a). Dennoch spielen Überlegungen zur Aufrechterhaltung der ambulanten
Pflegeinfrastruktur im deutschen Katastrophenschutz gegenwärtig höchstens eine untergeordnete Rolle.
Aber auch die ambulanten Pflegedienste selbst sind kaum im Bereich der Katastrophenvorsorge aktiv. Die
aktuelle Pflegesituation ist von einer engen Taktung der Arbeiten und einem personellen Ressourcenmangel
geprägt, sodass die Bewältigung von schwerwiegenden und anhaltenden Alltagsstörungen den Pflegediensten
erhebliche Schwierigkeiten bereitet (Blättner et al. 2013). Strukturelle Faktoren, wie der geringe Anteil
an Vollzeitbeschäftigten (28%) und examiniertem Pflegefachpersonal (43%), kommen erschwerend hinzu
(Destatis 2020b). Der ambulante Pflegesektor ist als sehr kleinteiliger Markt mit über 14.000 mehrheitlich
privatwirtschaftlichen und überwiegend Unternehmen mit vergleichsweise wenigen Beschäftigten schwer
zu überblicken (Destatis 2020b). Diese strukturellen Faktoren und der Mangel an zentralen Ansprechpartner*
innen erschweren die Kooperation zwischen Akteur*innen des Bevölkerungsschutzes und der ambulanten
pflegerischen Langzeitversorgung.
Die politischen Konzepte zum Schutz kritischer Infrastrukturen verschärfen in ihrer Grundausrichtung
diese Problematik auf zwei Weisen. Erstens sind sie von der Annahme geleitet, dass kritische Infrastrukturen
der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens dienen. Was das Gemeinwesen konkret prägt, bleibt jedoch zumeist
vage. Durch die Fokussierung auf ein abstraktes Gemeinwesen drohen jedoch insbesondere Bedarfe
ohnehin marginalisierter Bevölkerungsgruppen, wie etwa häuslich gepflegter Personen, aus dem Blick zu
geraten. Zweitens werden kritische Infrastrukturen in der Regel als Versorgungsadern der Bevölkerung betrachtet.
Aus dieser Perspektive gilt es Menschen mit den als notwendig definierten Gütern und Dienstleistungen
zu versorgen. Ein solcher Ansatz geht zunächst von der Versorgung des einzelnen Individuums aus.
Das Gemeinwesen ist somit die Summe seiner Mitglieder, wobei die Beziehungen zwischen den Mitgliedern
kaum oder gar nicht betrachtet werden (ausführlicher dazu: Kapitel 5).
Das vorliegende Working Paper bündelt gegenwärtige sozialwissenschaftliche Forschungsverständnisse
zum Schutz (kritischer) Infrastrukturen (Kapitel 5), den (inter-)nationalen Fachdiskurs des Bevölkerungsschutzes
zum Schutz häuslich gepflegter Personen in Katastrophensituationen (Kapitel 3) sowie die aktuellen
pflegewissenschaftlichen Diskurse zur Patientensicherheit und zum Disaster Nursing, also zu Rolle und
Aufgaben von Pflegenden in allen Schritten des Katastrophenmanagements (Kapitel 4). Dabei analysiert es
mehrperspektivisch die bestehenden Potenziale und Problemstellungen zur Stärkung der ambulanten Pflegeinfrastruktur
in Krisen und Katastrophenfällen. Als Ergebnis der Analyse werden drei zentrale Forschungsdesiderate
für die weitere Forschung im Projekt AUPIK identifiziert (Kapitel 6):
1) Es ist zu analysieren, welches Infrastrukturverständnis im Bevölkerungsschutz vorherrscht und welche
Auswirkungen sich aus diesem Verständnis für die Krisenfestigkeit der ambulanten Pflegeinfrastruktur
ergeben. Dem Ansatz der Fürsorgeethik (ethics of care-Ansatz) folgend, sollten dabei auch alternative
Verständnisse von Infrastruktur konzipiert und in den Untersuchungsprozess einbezogen werden, um
strukturelle soziale Faktoren zur Stärkung der ambulanten Pflegeinfrastruktur zu identifizieren.
2) Zudem gilt es Potenziale, Bedarfe und Maßnahmen zu bestimmen, um auf organisationaler und
individueller Ebene die Kompetenzen der Pflegedienste und ihrer Mitarbeitenden im Umgang mit
Krisen und Katastrophen zu stärken.
3) Schließlich sind die Potenziale und Bedarfe des Katastrophenschutzes zu bestimmen, um darauf
aufbauend Maßnahmen zur Unterstützung von ambulanten Pflegeinfrastrukturen in Krisen und
Katastrophen auf organisationaler und individueller Ebene zu erarbeiten.
Abstract:
This working paper brings together social science research approaches on the protection of critical infrastructures, the professional discourse on safeguarding home care recipients in disaster situations, and nursing science discussions on patient safety and disaster nursing. It analyzes the potentials and challenges for strengthening outpatient care infrastructure during crises and disasters, from various perspectives. As a result, three research desiderata, are identified and highlighted under the project name AUPIK: (1) Analysis and understanding of infrastructure in civil protection and its implications for the resilience of outpatient care infrastructure. (2) Identification of potentials, needs, and measures to enhance the competencies of nursing services and staff in dealing with crises and disasters at organizational and individual levels. (3) Determination of potentials and needs of disaster management to develop measures in order to support outpatient care infrastructures in crises and disasters at the organizational and individual level.