Inhaltszusammenfassung:
Seit die Existenz tragischer Phänomene in mittelalterlichen Texten nicht mehr kategorisch ausgeschlossen wird, steht die mediävistische Forschung vor der Frage, wie das Tragische in mittelalterlichen Texten beschreibbar gemacht werden kann. Diese Arbeit bietet einen Zugang zur Forschungsdebatte und untersucht die vier zentralen Tragiktheorien, die die Diskussion um ‚Tragik im Mittelalter‘ prägen: Szondis Primat der Dialektik, Aristoteles’ Tragödienkonzept, Boethius’ Vorstellung vom Kampf mit dem Schicksal sowie Bohrers Ästhetik des Schreckens. Diese Theorien werden mithilfe eines analytischen Mengenmodells in ihrer Verschiedenheit anerkannt und zugleich auf Überschneidungsmomente hin befragt.
Indem Tragik in dieser Arbeit als skalierbares Phänomen verstanden wird, können neben intensiv-tragischen Texten auch Erzählungen mit einem subtileren tragischen Potential in den Blick genommen werden. Die Textauswahl ist bewusst genreübergreifend und umfasst Werke aus der heldenepischen Tradition, höfische Romane und einen Legendenroman (‚Nibelungenlied‘, ‚Hildebrandslied‘, ‚Iwein‘, ‚Willehalm‘ und ‚Gregorius‘). Die Analysen zeigen unterschiedliche Varianten literarischer Tragik sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Darstellungsebene des Textes auf (hier beschreibbar gemacht als „strukturelle Tragik“, „Tragik der Figur“, „Tragik des Erzählers“, „Tragik des Erzählens“ und „ästhetischer Schrecken“). Ein besonderer Fokus liegt auf der Wechselwirkung von Tragik mit anderen Erzähldimensionen, etwa der Verbindung von Tragik und Heroik, Tragik und Komik sowie tragischem und legendarischem Erzählen.
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die spezifischen Erzähl- und Darstellungsformen mittelalterlicher Erzähltexte sowohl das Potential haben, die Wirkung tragischer Phänomene zu verstärken, als auch dazu beitragen können, diese signifikant zu vermindern.